Aufmerksamkeits-Defizitis-Hyperaktivitäts-Störung
POSITIONSPAPIER ZUR ERGOTHERAPIE BEI ADHS/ UEMF
Ergotherapie ist ein wesentlicher Bestandteil in der Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (F 90. ADHS) und der damit verbundenen Einschränkungen bei derTeilhabe und bei bedeutsamen Alltagsaktivitäten (Betätigungen). Ergotherapie ist ein klientenzentriertes, betätigungsorientiertes, multimodales Heilmittel. Sie ist fest in der Grundversorgung der ADHS und ihrer komorbiden Störungen, insbesondere der umschriebenen Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen (F 82. UEMF), etabliert.
Prävalenz und Komorbidität von ADHS und UEMF
Die ADHS ist die häufigste kinder- und jugendpsychiatrische Störung mit einer Prävalenz von 4,8 % (etwa 600.000 Kinder und Jugendliche). Nach Elternurteil weisen 17,9 % der 7-10-jährigen Kinder Hyperaktivitätsprobleme auf (KIGGS, 2006; Schlack et al., 2014). Die Prävalenz der UEMF liegt bei ca. 5-6 % aller Kinder (AWMF, 2011). Beide Störungsbilder treten im Kindes- und Jugendalter mit jeweils ca. 5 % häufig auf. In ca.50% der Fälle treten ADHS und UEMF gemeinsam auf und weisen somit eine hohe Komorbidität auf (ebd.).
ADHS und UEMF führen zu erheblichen Aktivitäts- und Teilhabeeinschränkungen
ADHS und UEMF haben weitreichende Folgen: Sie können zu erheblichen Beeinträchtigungen der Alltagsbewältigung und der sozialen, schulischen und beruflichen Funktionsfähigkeit führen. Eine Beeinträchtigung dieser Funktionsfähigkeiten kann emotionale Probleme verursachen, Probleme mit Gleichaltrigen herbeiführen und dieTeilhabe und Lebensqualität der Betroffenen bis ins Erwachsenenalter negativ beeinflussen.Ein unbehandeltes ADHS kann die Entstehung weiterer Erkrankungen und Teilhabeprobleme begünstigen (Döpfner et al., 2013). Eine unbehandelte UEMF kann zu Adipositas, herabgesetzter Fitness, Rückzug undTeilhabeeinbußen, erschwerten Eltern-Kind-Beziehungen, emotionalen, depressiven, somatoformen sowie Angststörungen führen (Blank, 2012). Rasmussen et al. (2000) fanden heraus, dass Menschen mit ADHS und UEMF ein weitaus schlechteres Outcome aufweisen als Menschen mit ADHS aber ohne UEMF: In der ADHS/ UEMF-Gruppe fanden sich weit häufiger (58 % vs. 13 % in der ADHS-Gruppe ohne UEMF) antisoziale Persönlichkeitsstörungen, Alkoholmissbrauch, Delinquenz, Lesestörungen und ein geringes Bildungsniveau. Kinder mit ADHS (und UEMF) weisen z. B. eine signifikant erhöhte Unfallrate und Unfallschwere auf (gegenüber der Vergleichsgruppe ohne UEMF 3,8-fach erhöht). Grützmacher (1998) berechnet in diesem Zusammenhang, dass das Risiko für Verkehrsunfälle für Kinder unter 15 Jahren mit der Diagnose ADHS um das Neunfache erhöht ist. Es besteht bei Experten und auch in der Gesellschaft ein hoher Konsens, dass Kinder/Jugendliche mit der Diagnose ADHS und deren Bezugspersonen angemessene Hilfen und Unterstützung erhalten sollten, um die negativen Folgen dieser Erkrankung möglichst gering zu halten und ein Maximum an Teilhabe zu erreichen.
Ergotherapie hat zum Ziel, die Aktivitäts- und Teilhabemöglichkeiten von Menschen
mit Beeinträchtigungen zu verbessern
„Die Ergotherapie – abgeleitet vom griechischen „ergein“ (handeln, tätig sein) – geht davonaus, dass „Tätig sein“ ein menschliches Grundbedürfnis ist und dass gezielt eingesetzte Tätigkeit gesundheitsfördernde und therapeutische Wirkung hat. Deshalb unterstützt und begleitet Ergotherapie Menschen jeden Alters, die in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt oder von Einschränkung bedroht sind und/ oder ihre Handlungsfähigkeit erweitern möchten. Ziel der Ergotherapie ist es, Menschen bei der Durchführung von für sie bedeutungsvollen Betätigungen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit/ Erholung in ihrer Umwelt zu stärken. In der Ergotherapie werden spezifische Aktivitäten, Umweltanpassung und Beratung gezielt und ressourcenorientiert eingesetzt. Dies erlaubt dem Klienten, seine Handlungsfähigkeit im Alltag, seine gesellschaftliche Teilhabe (Partizipation) und seine Lebensqualität und -zufriedenheit zu verbessern.“ (DACHS, 2007) Ergotherapie ist eine notwendige Intervention und ein verordnungsfähiges Heilmittel bei Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Eine Indikation für ergotherapeutische Maßnahmen besteht, sobald eine Beeinträchtigung in den Aktivitäten des täglichen Lebens(ATL) vorliegt oder aufgrund der Symptomatik droht (G-BA, 2011).
Ergotherapie als kostengünstige und niedrigschwellige Intervention
Das Heilmittel Ergotherapie wird häufig bei ADHS und UEMF verordnet, ist in Deutschland ohne lange Wartezeiten flächendeckend verfügbar und ist kostengünstiger als psychotherapeutische Verfahren. Dies belegen Schröder et al. (2014) und zeigen auf, dass 30,1 % der 3-5-jährigen, 33,9 % der 6-10-jährigen und 9,4 % der 11-17-jährigen Kinder/Jugendlichen mit ADHS, die bei der AOK versichert waren, im Jahr 2012 Ergotherapie erhielten. In der GEK-Studie „ADHS bei Kindern und Jugendlichen“ erhielten 56,2 % der GEKversicherten Kinder im Alter von 6-16 Jahren, mit mindestens einer für die Erkrankung typischen Arzneimittelverordnung, Ergotherapie. Ergotherapie stellt damit das zweithäufigste Behandlungsverfahren bei dieser Gruppe dar. (Gebhardt et al., 2008) Aufgrund der Evidenzlage werden ergotherapeutische Interventionen bei UEMF in der“Deutsch-Schweizerischen Versorgungsleitlinie“ stark empfohlen (AWMF, 2011). Besonders hervorgehoben werden dabei aufgabenorientierte Behandlungsansätze (wie z. B. CognitiveOrientation to daily Occupational Performance/ CO-OP) zur Verbesserung motorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten. Starke Evidenz fand die Leitliniengruppe zudem für unspezifische ergotherapeutische Interventionen, die bei Kindern mit UEMF immer noch besser sind als keine Intervention.
Evidenz der Ergotherapie bei ADHS und UEMF
In den vergangenen Jahren haben sich national und international neue Erkenntnisse ergeben. Diese zeigen, dass unterschiedliche ergotherapeutische Maßnahmen nicht nur dieTeilhabe in Schule und Alltag oder die Belastung von Eltern und Lehrern, sondern auch die Kernsymptomatik von ADHS positiv beeinflussen können. Darüber hinaus gibt es evtl. auch einen Zusammenhang zwischen Ergotherapie und einem geringeren Bedarf an Psychostimulanzien: In ihrem Sondergutachten zur Versorgungssituation von Kindern und Jugendlichen mit ADHS stellt die GEK fest, dass Versicherte, die neben einer Stimulanzienverordnung Ergotherapie bekommen, in allen Altersgruppen eine durchschnittlich deutlich geringere Tagesdosis benötigen als solche, die zwar Medikamente, aber keine Ergotherapie erhalten. Es sei „[…] schwierig zu sagen, ob sich der Stimulanzienverbrauch durch die begleitende Ergotherapie reduziert, oder ob es daran liegt, dass sich die Krankheitsbilder der Versicherten unterscheiden. Das Ergebnis könnte aber ein Hinweis darauf sein, dass durch eine begleitende Therapie die erforderliche Stimulanziendosis geringer wird“ (Gebhardt et al., 2008, S. 140).Arasin (2009, 2011) belegt die Wirksamkeit des ergotherapeutischen Trainingsprogramms(ETP) bei ADHS (Winter et al., 2007) und zeigt auf, dass sich die hyperkinetische Symptomatik reduziert und die Kernsymptomatik der ADHS signifikant verbessert. So wird das ETP-ADHS auch im Leitlinien-basierten „Protokoll zur Diagnostik und Therapie von ADHS bei Kindern und Jugendlichen“ aufgeführt (Döpfner, 2012). Darüber hinaus wurden in den vergangenen Jahren weitere Programme veröffentlicht und in Pilotstudien – zunächst ohne Kontrollgruppe – mit positiven Ergebnissen getestet (Chu &Reynolds, 2007a, 2007b; Cordier et al., 2009; Wilkes et al., 2011; Hahn-Markowitz et al.,2011). Soziale Fertigkeiten von Kindern mit ADHS werden mit spielbasierten Interventionenwirksam gefördert (Wilkes-Gillan et al., 2014; Wilkes et al., 2011). In einem systematischen Review von Smits-Engelsman et al. (2013) wurde ermittelt, dass Ergotherapie die motorischen Fertigkeiten von Kindern mit einer UEMF durch aufgabenorientierte Interventionsmethoden effektiv verbessert. Darüber hinaus hat Ergotherapie auch einen positiven Effekt auf das Selbstwertgefühl der Kinder (McWilliams,2005). Armstrong, (2012), Miller et al. (2001) und Polatajko et al. (2001) fanden heraus, dass spezifisch ergotherapeutische Verfahren, wie z. B. CO-OP, die motorischen Funktionen nachweislich verbessern, weshalb diese Verfahren auch in der S3-Leitlinie zur UEMFempfohlen werden (AWMF, 2011).
Vorgehen der Ergotherapie bei ADHS und UEMF
„Ergotherapie (ET) bietet Kindern und Erwachsenen Methoden zur Verbesserung der Leistung im Bereich der Alltagsaktivitäten und Verbesserungen der Teilhabe in Situationen,die den Betroffenen bedeutsam und wichtig sind. Ergotherapeuten analysieren die individuelle Kompetenz und Ausführung; sie entwickeln Interventions- und Therapiemethoden für Probleme rund um die Ausführung und die Teilhabe zusammen mit den Betroffenen, im vorliegenden Falle mit Kindern und deren Familien. Sie benutzen verschiedene Ansätze je nach Kind und Familie sowie deren Ziele und Lebenssituation. Zur Anwendung kommen z. B. prozessorientierte Ansätze, wie die Sensorische Integrationstherapie (SI), strategische aufgabenorientierte Ansätze wie Cognitive-Orientationto Occupational Performance (CO-OP), Adaptationen an die Umwelt und in einigen Ländern auch Formen der Gruppentherapie. Sie wenden hierbei auch standardisierte Untersuchungsmethoden an, um vielfältige Fähigkeiten und Fertigkeiten im Bereich der Körperfunktionen sowie die Bedürfnisse der Kinder zu evaluieren. In der Ergotherapie wird auch ein Schwerpunkt auf die Analyse und Anpassung der materiellen Umwelt sowie auf die Beratung und Anleitung der sozialen Umgebung des Kindes gelegt. In Ergänzung zur verbesserten funktionalen Fähigkeit und Teilhabe sind die Lebensqualität und die Lebenszufriedenheit wichtige Ziele der Ergotherapie.“ (AWMF, 2011)
Ergotherapie ist multimodal
Ergotherapie ist ein klientenzentriertes, betätigungsorientiertes, multimodales Heilmittel. Es besteht aus kindzentrierten (Behandlungskonzepte und Trainings), umfeldzentrierten(Beratung, Coaching, Schulung von Eltern, Erziehern/ Lehrern) und umweltzentrierten Interventionen (Optimierung der räumlichen Umwelt, Hilfsmittelanpassung).
Der ergotherapeutische Prozess
Dieser wird durch entsprechende international anerkannte Prozessmodelle beschrieben (z.B. Canadian Practice Prozess Framework/ CPPF): Im Rahmen einer modernen betätigungs und klientenzentrierten Ergotherapie wird zu Beginn der Therapie eine Abklärung der Rahmenbedingungen und daraus folgernd eine differenzierte Erhebung der Einschränkungen bei Aktivitäten und Teilhabe in den verschiedenen Lebensbereichen mit entsprechenden Assessment-Instrumenten durchgeführt (z. B. dem Canadian OccupationalPerformance Measure/ COPM). Bei Bedarf werden mit spezifischen Test- und Screeningverfahren mögliche Schädigungen im Bereich der Körperfunktionen ermittelt (z. B.Aufmerksamkeitstests, M-ABC-2). Anschließend werden gemeinsam mit den Klienten (Kindund Eltern) konkrete, alltagsnahe und überprüfbare Betätigungs- und Teilhabeziele formuliert. Die Zielerreichung wird mit entsprechenden Skalierungsinstrumenten (z. B. GoalAttainment Scale/ GAS oder Performance Quality Rating Scale/ PQRS) erfasst. Individuelle und alltagsrelevante Handlungsziele sind dabei häufig:
Im Bereich Selbstversorgung:
- in angemessener Zeit aufstehen
- sich zügig und selbstständig waschen und Zähne putzen
- morgens zügig anziehen
- Verschlüsse schließen, Schleife binden
- Toilettengänge alleine bewältigen
- sich eine kleine Mahlzeit zubereiten
- Wege sicher und zügig alleine bewältigen
- selbstständig das Zimmer aufräumen
- sich abends in angemessener Zeit bettfertig machen
- in angemessener Zeit zu Bett gehen
Im Bereich Produktivität:
- im Stuhlkreis mitmachen
- sich im Unterricht aktiv beteiligen
- Gesprächsregeln einhalten
- bei seinen Aufgaben bleiben
- Aufgaben sorgfältig und in angemessener Zeit bewältigen
- altersentsprechend malen und basteln
- lesbar und im entsprechenden Tempo schreiben
- in der Pause mit anderen Schülern spielen
- die Aufgaben im Sportunterricht angemessen bewältigen
- Hausaufgaben in angemessener Zeit bewältigen
- den Schulranzen so packen, dass alles drin ist
- Ordnung bei den Schulmaterialen halten
Im Bereich Freizeit und soziales Leben:
- sich für eine angemessene Zeit allein beschäftigen können
- altersentsprechende Spiele spielen
- Freunde finden
- angemessen und kooperativ mit anderen Kindern spielen
- aktive Freizeitbeschäftigungen entwickeln
- sich in Freizeit- und Sportgruppen integrieren
- zur Ruhe kommen
- Besuche, Ausflüge und Reisen bewältigen
- Konflikte angemessen lösen
Zum Erreichen der Handlungsziele notwendige Körperfunktionen/-strukturen, z. B.:
- Selbstvertrauen/ Selbstwertgefühl
- Aufmerksamkeit
- Gedächtnis
- exekutive Funktionen
- soziale Fertigkeiten
- Optimismus
- Kritikfähigkeit
- Kompromissfähigkeit
- Wahrnehmung und Verarbeitung (Integration) sensorischer Reize
Mithilfe differenzierter Betätigungs- und Umweltanalysen werden die förderlichen und hemmenden Faktoren bei den jeweils anstehenden Aktivitäten und Aufgaben ermittelt. Spezifische (und wann immer möglich, in ihrer Wirksamkeit belegte) Interventionen, die Beratung und Schulung des Umfeldes und die Optimierung der räumlichen Umwelt bilden die Säulen einer multimodalen Ergotherapie (Winter, 2014). Eine fortlaufende Kontrolle der Therapieeffekte im Alltag der Kinder/ Jugendlichen wird im Rahmen der evidenzbasierten Praxis durch den Einsatz entsprechender Assessment-Instrumente gewährleistet. Dabei sollte, wie in der S3-Leitlinie zur UEMF empfohlen, die Evaluierung der Alltagsaktivitäten und Teilhabe im Mittelpunkt stehen (AWMF, 2011).
Aufgabenorientierte ergotherapeutische Behandlungskonzepte
Aufgabenorientierte ergotherapeutische Ansätze (wie z. B. CO-OP, ErgotherapeutischesTrainingsprogramm bei ADHS/ ETP-ADHS, Wunstorfer Basistraining, aufgabenorientiertesAlltagstraining, aufgabenorientiertes Schreibtraining) sorgen dafür, dass Therapieeffekte unmittelbar in den Alltag übertragen werden. Dadurch verkürzt sich die Behandlungsdauer. Diese Ansätze helfen Kindern mit diversen Erkrankungen und Beeinträchtigungen, konkrete Fertigkeiten (wie z. B. Schleife binden, sich morgens zügig anziehen, leserlich schreiben etc.) zu erlernen. Dazu werden von Kind und Eltern gemeinsam zunächst 3-4 konkrete Ziele zur Verbesserung bedeutungsvoller Aktivitäten (Betätigungen) formuliert. Nach der Zielvereinbarung lernt das Kind globale Problemlösungsstrategien. Anschließend erhebt die Ergotherapeutin den Anfangsstatus (Baseline) bei der Durchführung (Performanz) der Zielbetätigungen und analysiert, an welchen Punkten die Ausführung scheitert (Break-Down-Point). Im weiteren Therapieprozess ermittelt das Kind, unterstützt durch die Ergotherapeutin, passende eigene und aufgabenspezifische Strategien, die ihm helfen die angestrebte Fertigkeit erfolgreich auszuführen. Mittels Hausaufgaben und Strategiebüchern werden die erarbeiteten Strategien kontinuierlich in den Alltag des Kindes übertragen. Die Bezugspersonen (Eltern, Erzieher, Lehrer) werden eng in den therapeutischen Prozess einbezogen und entsprechend beraten, um das Kind aktiv und wirksam beim Erreichen seiner Ziele unterstützen zu können. Durch die aufgabenorientierte Ergotherapie wird das Kind zum aktiven Problemlöser. Es entwickelt mithilfe verschiedener Strategien eigene Ideen, wie es im Alltag Fertigkeiten erlernen und anstehende Aufgaben und Probleme eigenständig bewältigen kann. Dadurch erhöht sich die Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit des Kindes mit zukünftig auftretenden Schwierigkeiten und Problemen umzugehen.
Prozessorientierte und funktionale ergotherapeutische Behandlungsansätze
Bei diesen Ansätzen wird im Rahmen einer differenzierten Befunderhebung zunächst eine Analyse der Körperfunktionen und -strukturen (z. B. der Aufmerksamkeits- oder Wahrnehmungsleistungen) durchgeführt. Dann werden diejenigen Funktionen, die das Kind daran hindern, in seinem Alltag erfolgreich aktiv zu sein und teilzuhaben, angebahnt und mit Hilfe spezifischer Trainings- und Behandlungskonzepte verbessert. Zum Einsatz kommen dabei z. B. diverse evidenzbasierte Aufmerksamkeitstrainings, Sozialkompetenztrainings, Elemente der Sensorischen Integrationstherapie (SI) und Neurofeedback (Winter, 2012a;2012b; 2014).
Umfeldberatung
Die Beratung, Anleitung und Schulung von Eltern, Erziehern/ Lehrern ist unerlässlicher Bestandteil ergotherapeutischer Interventionen und dient der Sicherstellung der Behandlungsergebnisse. Sie vermittelt den erwachsenen Bezugspersonen, wie sie das Kind beim Erreichen der Therapieziele, bei der Alltagsbewältigung und Teilhabe wirksam unterstützen können. Ergotherapeuten nutzen dabei passende Elemente evidenzbasierter Beratungskonzepte (z. B. Triple P, Therapieprogramm bei hyperkinetischen und oppositionellen Problemverhalten/ THOP, Ergotherapeutisches Elterntraining/ ETET,Occupational Performance Coaching/ OPC).
Beratung vor Ort und Unterstützung im Rahmen von Inklusion
Um das Kind/ den Jugendlichen und seine Bezugspersonen vor Ort in ihrer Lebenswelt (zu Hause, Kindergarten etc.) bei der Alltagsbewältigung und Teilhabe zu unterstützen, führen Ergotherapeuten „Beratung zur Integration in das häusliche und soziale Umfeld“ durch. Ergotherapeuten unterstützen im Rahmen der Inklusion Kinder mit ADHS und UEMF, am Kindergarten- und Schulalltag teilzuhaben. Sie beraten das Umfeld bezüglich hilfreicher Strategien im Umgang mit den Kindern, sie adaptieren Anforderungen und Aufgaben für die Kinder und optimieren deren räumliche Umwelt, damit sie sich erfolgreich betätigen und teilhaben können.
Optimierung der räumlichen Umwelt
Ergotherapeuten sind Experten für die Optimierung und Anpassung der räumlichen Umwelt. Sie beraten zum Thema Ergonomie, passen Ort und Gestaltung des Arbeitsplatzes an die besonderen Bedürfnisse des Kindes an, beraten bezüglich Barrierefreiheit, zum Thema Bewegungsraum, adaptieren Werkzeuge und Hilfsmittel, erstellen Bildkarten, Icons, Mnemomics und andere Hilfsmittel, die es dem Kind ermöglichen aktiv zu werden, sich zu entwickeln und teilzuhaben.
Ergotherapie bei ADHS und UEMF
Ergotherapie behandelt erfolgreich ADHS und UEMF dadurch, dass sie alltagsbezogene Handlungen und Aktivitäten verbessert, die wiederum die soziale, schulische und spätere berufliche Funktionsfähigkeit und Teilhabe fördert, indem sie:
- Alltagsbewältigung und Handlungskompetenz trainiert,
- die Selbständigkeit verbessert,
- Problemlösefähigkeiten fördert,
- die zentralnervöse Aktvierungsbereitschaft verbessert,
- die eigenaktive Selbstregulation des Kindes/ Jugendlichen verbessert,
- kognitive Funktionen (wie Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen) trainiert,
- motorische Unruhe reduziert,
- die Produktivität, wie z. B. Arbeitstempo und -sorgfalt, verbessert,
- die Körperkoordination verbessert,
- die Selbstwirksamkeit des Kindes steigert und
- seine Kompetenzen erweitert.
Fazit
Der DVE unterstützt die Implementierung der Leitlinienempfehlungen zu ergotherapeutischen Maßnahmen bei Kindern mit UEMF und setzt sich darüber hinaus auch für die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Wirksamkeit des aufgabenorientierten Ansatzes bei Kindern mit ADHS ein. Ergotherapie ist aufgrund ihrer biopsychosozialen Ausrichtung indiziert, wenn Alltagsleistungen möglichst gezielt verbessert werden sollen. Sie ist Teil einer multimodalen und interprofessionellen Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten.
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Artikel Quelle: www.dve.info/fileadmin/upload/pdf/_news/141208_DVE-Positionspapier_ADHS-UEMF_Langfassung.pdf